Kultur + Talent

Interview mit Tim Brown

Werden Sie kreativ und unordentlich und vergessen Sie das Wort Scheitern

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Tim Brown — Designer, Autor, TED-Sprecher, IDEO CEO und kürzlich ernanntes Mitglied des Aufsichtsrats bei Steelcase – spricht über Kreativität und wie Unternehmen sie fördern oder abtöten können.

360: Wie definieren Sie Kreativität?

TB: Im Allgemeinen ist es die Fähigkeit, neue Ideen zu generieren. Für Unternehmen ist es die kreative Wettbewerbsfähigkeit oder die kreative Fitness: die Fähigkeit, neue Ideen zu generieren und nach ihnen zu handeln; die Fähigkeit, etwas mit dem kreativen Potenzial zu machen, über das Sie verfügen.

360: Wirtschaftsführer haben Kreativität in der Regel nicht auf ihrer Prioritätenliste. Warum?

TB: Im Fokus des Managements der letzten 50 Jahre liegen betriebliche Spitzenleistungen, bei denen es insbesondere darum geht, Systeme zu optimieren. Die Bedingungen haben sich in den letzten 10-20 Jahren aber offensichtlich schnell verändert, und das Geschäftsumfeld ist sehr viel volatiler geworden. Und so wird die Grundidee der Kreativität immer wichtiger: die Fähigkeit, unbekannten Situationen auf generative Art und Weise zu begegnen und dabei neue Lösungsmodelle zu schaffen anstatt nur Lösungen der Vergangenheit zu wiederholen. Wir werden diesen Aspekt in Zukunft auf der Agenda vieler Unternehmen sehen — zumindest aber bei denjenigen, die der Disruption nicht erliegen wollen, die um sie herum überall sichtbar ist.

360: Wo würden Sie Kreativität auf der Prioritätenliste von heutigen Unternehmen platzieren?

TB: Ich denke, das ist fast eine 50/50-Sache. Unternehmen müssen gleichermaßen betrieblich effektiv und kreativ wettbewerbsfähig sein. In vielen digital getriebenen Branchen, in denen Kreativität bereits jetzt ein Schwerpunkt ist, müssen Unternehmen wohl noch kreativer sein als 50/50.

360: Sie haben geschrieben, dass es in der Verantwortung der Manager liegt, Räume und Tools zur Verfügung zu stellen, die zu Kreativität und Zusammenarbeit anregen. Wie sehen diese Räume und Tools aus?

TB: Anders als in der Welt der analytischen oder prozessgesteuerten Arbeit, brauchen wir in einem kreativen oder kreativ geführten Unternehmen eine größere Vielfalt an Arbeitsumgebungen. Wir brauchen Umgebungen, die unterschiedliche Energieniveaus unterstützen – egal, ob es um aktive Ideenfindung, Brainstormings, Reflexionen, Konversationen oder Reviews geht. Wir brauchen auch aus akustischer Sicht verschiedene Arten von Räumen. Wir brauchen unterschiedliche Arten von Sitzmöbeln, damit die Menschen verschiedene Energieniveaus in verschiedenen Arbeitsschritten einbringen können. Eine der Sachen, die die Menschen meist wahrnehmen, wenn sie zu IDEO kommen, sind unsere Räume und unsere Arbeitsumgebungen. Sie sind nicht komplex und sie sind nicht notwendigerweise sehr teuer in der Anschaffung, aber sie sind vielfältig. Sie unterstützen Teams, sie unterstützen Einzelpersonen, sie unterstützen verschiedene Arbeitsweisen. Und sie sind auch oft verspielt, denn wir wollen, dass die Menschen in einer optimistischen Stimmung sind, wenn sie an kreativen Problemlösungen arbeiten.

The Creative Shift
IDEO San Francisco, CA

360: Gibt es ein bestimmtes Erscheinungsbild für kreative Unternehmen?

TB: Ich sehe keineswegs nur viele bunte Möbel und Kickertische. Im Vordergrund stehen vielmehr Belege dafür, dass die Menschen versuchen, Ideen auszuprobieren. Liegen hier Prototypen herum? Sehe ich Arbeiten an den Wänden, damit die Menschen Ideen teilen und darüber sprechen können? Kreativen Prozessen ist ein gewisses Maß an Unordnung zu Eigen, das wirklich kreative Umgebungen meistens widerspiegeln. Es ist zwar etwas paradox, doch wenn wir einen Raum als zu kostbar empfinden, gelingt es uns nicht immer, jene Art von kreativem Umfeld, zu schaffen, das wir eigentlich wollen. Eine der größten Herausforderungen der Mitarbeiter, die sich um die Arbeitsumgebungen in unseren Büros kümmern, ist es, das Chaos zu bewältigen, und die Unordnung nicht überhandnehmen zu lassen, denn es gibt Dinge, die sich ständig ändern.

360: Führungskräfte müssen den Menschen die Erlaubnis für ein gewisses Chaos geben, oder?

TB: Führungskräfte wollen eine Kultur, bei der die Mitarbeiter eher um Entschuldigung bitten als um Erlaubnis. Mit anderen Worten: die Erlaubnis ist bereits vorhanden, bis zu einem gewissen Punkt, an dem dann, wie es scheint, eine Linie überschritten wird. Zugleich gibt es eine Kultur, in der eher über das Entschuldigen gesprochen wird als über eine immer wieder erweiterte Erlaubnis für jedes übernommene Risiko. Das alles hat eindeutig etwas mit Risikobereitschaft zu tun. Wenn Ihr Ziel ein kreatives Unternehmen ist, das ebenso innovativ wie gut im Problemlösen ist, dann möchten Sie, dass Ihre Mitarbeiter Risiken eingehen. Wenn sie für jedes Risiko, das sie eingehen, eine Erlaubnis brauchen, selbst dafür, aus einer Wand ein Chaos zu machen, dann gehen sie womöglich auch bei den wichtigen Dingen keine Risiken mehr ein. Stark auf solchen Erlaubnissen basierende Kulturen sind vielleicht in betrieblicher Hinsicht sehr gut, aber sie sind keine großen kreativen Problemlösungskulturen.

Führungskräfte wollen eine Kultur, bei der die Mitarbeiter eher um Entschuldigung bitten als um Erlaubnis.

 

The Creative Shift

 

360: Das Scheitern ist Teil des kreativen Prozesses. Wie können Führungskräfte Menschen in Unternehmen helfen, Misserfolge als Teil des Prozesses zu verstehen und zu akzeptieren und daraus zu lernen?

TB: Es ist etwas unglücklich, dass wir das Wort „Scheitern“ verwenden, um diesen seltsamen Zustand des Lernens durch Dinge zu beschreiben, die nicht wie geplant funktionieren – und das ist es, worüber wir eigentlich reden. Offensichtlich denken wir beim Begriff Scheitern an eine Art katastrophales Versagen: das Versagen einer Brücke oder das Versagen eines jungen Unternehmens, das pleitegegangenen ist. Es gibt Lerneffekte, die genau auf diese Weise entstehen, aber es sind Lerneffekte, die man liebend gern nicht allzu oft erleben möchte, besonders dann, wenn die Sicherheit der Menschen auf dem Spiel steht. Das ist etwas anderes als dieser ständige Prozess des kreativen Lernens, das Lernen von Dingen, die nicht so funktionieren, wie erwartet. Wir etikettieren dieses Versagen, obwohl es eigentlich überhaupt keines ist. Es ist vielmehr die beste Form des Lernens. Einer meiner Kollegen spricht immer wieder darüber, wie das Lernen durch Ungleichgewichte geschieht, und beschreibt diesen Moment, an dem man plötzlich einfach nicht mehr weiß, was los ist. Man ist verwirrt, weil sich die Welt nicht so benimmt, wie man dachte, dass sie sich benehmen müsste.

Das ist der Zeitpunkt, an dem sich das Gehirn öffnet, um etwas zu lernen, der Zeitpunkt, an dem neue Neuronen, neue Verbindungen entstehen. Kreativität beruht genau darauf. Sie beruht auf jenen Momenten des Ungleichgewichts. Bis zu einem gewissen Grad muss man das Scheitern suchen, diese Momente suchen, an denen die Welt anders ist, als man sie sich vorgestellt hat, und dadurch dann neue Erkenntnisse über die Welt gewinnen. Diese Erkenntnisse sind die neuen Ideen, mit denen man weiter voran kommt. Ziel ist zugleich aber auch, nicht zu oft auf katastrophale Weise zu scheitern. Ich denke, wenn das Scheitern als Lernprozess wirklich gut gelingt, dann wird man nicht nur die tatsächlich wichtigen Dinge mit der Zeit erreichen, sondern auch die meisten Risiken ausräumen können, sodass die Wahrscheinlichkeit eines katastrophalen Versagens sinkt.

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