Lernen

Wo Lernen nun zu Hause ist – und wo später

Neue aktuelle Erfahrungen regen zum Hinterfragen, zum Über- aber vielleicht auch zum Neu-denken der Lernräume und deren Bedeutung für die darin handelnden Menschen an.

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Von Helmut Kausler, Senior Workplace Consultant bei Steelcase Learning

Wir sehen aktuell deutlicher denn je, realisiert insbesondere für die primären und sekundären Bildungsstufen als Novum, eine Trennung zwischen Zugang zu Informationen, Raum, Zeit sowie handelnden Personen. Technologische Entwicklungen ermöglichen Lehrenden und Lernenden nicht mehr in der gleichen physischen Umgebung, auch nicht mehr zur gleichen Zeit präsent zu sein, wie bislang in den traditionellen Lehrformaten.

Durch Maßnahmen, die der Eindämmung der Corona-Pandemie dienen sollen, wird diese technologisch vorbereitete, aber nur selten durchgängig realisierte Möglichkeit nun Standard des Lehrbetriebs an Universitäten und Hochschulen, und neuerdings auch in den Klassenzimmern der Schulen. Nun mussten Schüler raus aus dem „Haus des Lernens1“, haben keine geleitete Unterweisung mehr, sondern erfahren nun die Zeit, die vormals dem Unterricht vorbehalten war, als eine Situation in der sie selbstbestimmt, handlungsorientiert, forschend lernen sollen, meist in Einzelarbeit, oft eher lose über räumliche Distanz in überwiegend asynchroner Weise durch die Lehrenden angeleitet.

Jetzt erkennen wir die Bedeutung von Kommunikations- und Kollaborationsfähigkeit, die Bedeutung des Miteinander und des Voneinander-Lernens. Nachhaltiges Lernen hat weit mehr als nur einen rezeptiven Charakter, sondern bedeutet nach Watschinger, „fähig zu sein, sich zu orientieren, mit anderen zusammenzuarbeiten, sich auszutauschen, sich selbständig Wissen zu beschaffen, Wissen zu produzieren bzw. zu organisieren und nicht zuletzt für die Gestaltung der Lernwege und die erzielten Fortschritte und Ergebnisse selbst die Verantwortung zu übernehmen.“2

Denn der Bildung fällt die Aufgabe zu, Menschen einerseits auf Anforderungen des Lebens vorzubereiten, andererseits auch die sozialen, personellen und methodischen Kompetenzen zu vermitteln, sich, gegründet auf einem gefestigten Selbstbild und Beziehung zur Umwelt, an eine stetig ändernde Umgebung möglichst schnell anzupassen. Die OECD schreibt dazu in ihrer Studie Bildung, Trends, Zukunft 2019: „In einer komplexen, sich rasch wandelnden Welt ist es hierfür u.U. erforderlich, das Umfeld für formelles und informelles Lernen neu zu konzipieren. Angesichts der demografischen Entwicklung dürfte es dabei nicht nur Veränderung in der Grundbildung gehen, sondern auch um lebenslanges Lernen.“3

Die Wohnungen der Lernenden in Schulen und Hochschulen werden gegenwärtig zu Klassenräumen, zu EDV-Räumen, Laboren, Pausenhallen, zu Spielplätzen, zu Clubs, zu Rückzugsorten, zu Treffpunkten, zu Lesesälen und Bibliotheken.

Wenn nun aber, wie in der aktuellen Situation, eine ganze Gesellschaft über alle Altersgruppen hinweg in räumlicher Distanz zueinander lernt und arbeitet, wenn nun forschendes Lernen, das manchmal auch das sprichwörtliche „Begreifen“ erfordert, nur mehr in den eigenen vier Wänden stattfinden kann, stellt sich die Frage, wie gut oder wie schlecht Sach- oder Methodenkompetenzen, oder soziale und persönliche Kompetenzen hier vermittelt werden können.

Die Wohnungen der Lernenden in Schulen und Hochschulen werden gegenwärtig zu Klassenräumen, zu EDV-Räumen, Laboren, Pausenhallen, zu Spielplätzen, zu Clubs, zu Rückzugsorten, zu Treffpunkten, zu Lesesälen und Bibliotheken. Quasi zu öffentlichen Räumen aber auch privaten Bereichen. Die Trennung zwischen Work und Life, die in der Arbeitswelt diskutiert wird, ist hier aufgelöst. Von Auswirkungen auf Psyche und Physis der hier nur begrenzt aktiven Menschen abgesehen, können diese Umgebungen, diese Räume, das alles leisten?

“For older children life in the secondary school is becoming increasingly varied, with specialized rooms such as science labs, even ‘open plan’ office environments for certain kinds of study, sports, drama, music and social spaces, each tailored to a variety of learning forms. […] Students move around, between and sometimes during lessons. However, they don’t need to move very far, because new strategies see the careful grouping of complimentary subject areas. This reflects how people work today, in collaborative groups of varying expertise and knowledge. This will provide the most efficient departmental organizations, grounded in complex and scientifically proven theory of how people learn best.”4

Wie können wir diese Situation nutzen? Was können wir daraus lernen? Werden neue Lernformate mehr an Bedeutung gewinnen? Müssen die Räume in den Schulen auf dem Campus verändert werden, um neuem Lernen, neuem Arbeiten bestmöglich zu entsprechen? Und wenn ja, wie?

Die Lehrenden und Lernenden setzen aktuell die vormals meist nur theoretische oder in Pilotstudien realisierte Methode des „inverted classroom“ um und machen ihre Erfahrungen, lernen diese ohne Vorbereitung, Einarbeitung, Schulung oftmals Hals-über-Kopf kennen. Die Lernenden erarbeiten neue Inhalte zu Hause, unterstützt durch technologische Werkzeuge. „Die Lehrperson ist nicht mehr die alleinige Bereitstellerin von Wissen und Informationen, diese werden vielmehr kollektiv gesucht, entwickelt und diskutiert. Die benötigten Kompetenzen, die für einen in einem virtuellen Raum stattfindenden Lehr- und Lernprozess notwendig sind, müssen dabei teilweise erst von den Lernenden und Lehrenden ausgebildet bzw. adaptiert und übernommen werden, wobei sich diese Übernahme als kontinuierlicher Prozess darstellt, der von den Lehrenden und Lernenden bereits aktiv gestaltet wird.5“ Wenn Lachner und Kopp weiter schreiben „Die institutionelle Verankerung des virtuellen Lehr- und Lernraums stellt allerdings vielerorts noch ein Desiderat der Zukunft dar6“, so hat die jüngste Entwicklung in Europa diese Aussage überholt und die Lehrenden und Lernenden vor die Aufgabe gestellt, sich die Fertigkeiten für das Lehren und Lernen im virtuellen Raum anzueignen und weiter auszubilden, während der virtuelle Raum der Normalfall wird.

Zudem erleben die Lernenden aktuell die Variabilität, die ihnen die häusliche Umgebung bietet: Beispielsweise Schreiben und Dokumentieren am Schreibtisch, Lesen in der gemütlichen Ecke auf dem Sofa, Kommunikation über Chat-Technologien am Küchentisch, Lesen auf Balkon, Bett, Badewanne, und viele andere Orte, die nun Lernorte werden.

Wird sich das Verhalten und die Erwartungshaltung der Lehrenden und Lernenden geändert haben und wie muss sich die Umgebung, in der Menschen einander treffen, sich austauschen und zusammenarbeiten, an ein neues Verhalten anpassen?

Gleich der Entwicklung in der Arbeitswelt, in der Unternehmen ihren Mitarbeitern die Möglichkeit einräumten, ihre Tätigkeit von zu Hause aus wahrzunehmen, wurde in der Bildungswelt der Bereich „zu Hause“ hinzugefügt, der bislang in den meisten Fällen nur eine geringe, nicht-institutionalisierte Rolle gespielt hat. Muss also der physische Raum in Schule und Campus neu gedacht, neugestaltet werden, für die Zeit „Nach-Corona“? Wird sich das Verhalten und die Erwartungshaltung der Lehrenden und Lernenden geändert haben und wie muss sich die Umgebung, in der Menschen einander treffen, sich austauschen und zusammenarbeiten, an ein neues Verhalten anpassen?

Lernende, die aus einer Umgebung, in der die heimische Wohnung allen Anforderungen an eine Lernumgebung nur eingeschränkt genug werden konnte, werden zurück an Institutionen Schule und Hochschule kommen und ein neues Verständnis, eine veränderte Wertschätzung und erweiterte Anforderungen an diese Räume haben. Wie eine Palette an Auswahlmöglichkeiten, seien es Körperhaltungen, Grade an Privatsphäre oder Offenheit, Zugang zu Technologie oder Werkzeugen, Möglichkeit der persönlichen Interaktion, oder auch deren Fehlen, sich auf das Lernen, auf die Arbeit auswirkt, haben die Lernenden erfahren – aber auch die Lernenden haben nun eine veränderte Vorstellung von funktionierenden Lernräumen, etwa in Form einer Umgebung, gleich einem Ökosystem an Räumen, mit einer möglichst großen Diversität an Angeboten für die Lern- und Arbeitsmodi: Konzentration, Kommunikation, Zusammenarbeit oder Bereiche, um auszuruhen und das Erlernte zu verarbeiten.

Jetzt ist es an der Zeit, diese Erkenntnisse in die Planung der Lernumgebungen in den Schulen, Hochschulen und Universitäten einfließen zu lassen, damit wir bestmöglich die eigentliche Arbeit in diesen Räumen unterstützen, die Weitergabe von Wissen, die Heranbildung von Persönlichkeiten, die mit sozialer, methodischer, persönlicher, aber auch fachlicher Kompetenz die Aufgaben von heute und morgen bestmöglich bewältigen können.

Es ist an der Zeit, der Lernumgebung, und hier nicht nur den formalen Lernräumen, sondern allen Räumen in den Schulen, auf dem Campus die Rolle zukommen zu lassen, die diese für den Lernerfolg hat.

Steelcase Learning-Untersuchungen haben gezeigt, dass interaktivere und dynamischere Methoden, in den entsprechend geplanten Räumen, zu höherem Engagement (Beteiligung) seitens der Lernenden führen. Damit haben wir ein bedeutendes Werkzeug in unseren Händen, das neben guter Pädagogik und Technologie den Lernerfolg positiv beeinflussen kann, wir müssen es nur richtig einsetzen.

Schließen möchte ich diesen kurzen Gedankenanstoß mit einem kurzen Statement von Sir Ken Robinson: „The task of good school design is to create the best physical environment – the best habitat […]. For that reason, reimagining schools is one of the most creative challenges in contemporary education.”7


Helmut Kausler ist Senior Workplace Consultant bei Steelcase
Helmut Kausler ist Senior Workplace Consultant bei Steelcase Learning und berät in seiner Funktion Universitäten, Hochschulen, Schulen und sonstige Bildungseinrichtungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz hinsichtlich der Gestaltung von Lernumgebungen, die aktives Lernen unterstützen.


Quellen
(1) Rolff, H.-G.: Lehren im Haus des Lernens. Überlegungen zu einem Lehrerleitbild, in: Pädagogik 1997, H. 4., S. 33-35., zitiert nach: Krawitz, R. (1997), Bildung im Haus des Lernens, Bad Heilbrunn. (2) Watschinger, J. (2007): Leues Lernen braucht neue Räume. In: Ders. (HRSG.): Schularchitektur und neue Lernkultur. Neues Lernen – Neue Räume, Bern, S. 31-34. (3) OECD (2019), Bildung, Trends, Zukunft 2019, OECD Publishing, Paris, S.11. (4) Dudek, M. (2013), How can architecture foster teacher and learning in classrooms?, in: Kahlert, J., Nitsche, K., Zierer, K., Räume zum Lernen und Lehren, Bad Heilbrunn, 2013, S. 90. (5) Lachner, E., Kopp, M. (2014), Lernen und Lehren im virtuellen Raum, in: Rummler, K. Hrsg.), Lernräume gestalten – Bildungskontexte vielfältig denken, Münster, 2014, S. 183. (6) Ebenda, S. 183. (7) Robinson, Sir Ken. (2020), Building creativity into school design, in: Hudson, M., White, T., (2020) Planning Learning Spaces, London, 2020, S. 11.

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